Ein Filmfestival in unsrer Zeit ist nur gut, wenn es das Gesamtgeschehen der aus den Fugen geratenen Welt adäquat reflektiert und zwangsläufig Verwirrung, Unruhe, Ratlosigkeit, gar Zorn hervorruft.
In dieser Hinsicht erweist sich das Hamburger Filmfest, das seinen 23. Jahrgang feiert, mehr als gelungen. Mit rund 170 Filmen in 13 Sektionen gelang es, ein beeindruckendes Kaleidoskop, eine ästhetisch lebendige, zugleich auch eine thematisch nachhaltig bedrückende internationale Kinolandschaft den 50000 Besuchern zu präsentieren.
Und der Leiter des Filmfests hat recht, wenn er im Editorial zum Programmheft verkündet: „Es ist heute nicht möglich, ein Filmfest zu feiern, das von der Realität unseres Alltags gänzlich abstrahiert.“
Und so stellte eine Palette von Filmvorführungen auf allen erdenklichen Ebenen diesen Anspruch unter Beweis: von eindringlichen Arthaus-Produktionen über mutiges aufwühlendes Mainstreamkino bis zu erschütternden Dokumentarfilmen. Allein in der Sektion „Asia Express“ hatte man die seltene Gelegenheit, in einer Sonderreihe „Unabhängiges Kino aus China“ zu erleben. Filme, die ohne staatliche Erlaubnis, ohne offizielle Fördermittel entstanden, in China verboten. Filme, die uns seltene Einblicke gewähren: poetisch, politisch, persönlich bis ins Verborgenste des fraglichen Wandels der chinesischen Gesellschaft.
Die Präsentation des Filmfests wurde vielfältig und vielseitig klug gestaltet. Denn nicht nur die düsteren, die bedrückenden und die traurigen Seiten der Realität, sondern auch das Komödiantische, Satirische, Leichtfüßige ist nicht zu kurz gekommen. Um hier nur zwei Beispiele zu nennen: Im Eröffnungsfilm „Das Brandneue Testament“, der französischsprachige Film (2015), ein Beitrag der Sektion Voila´, geht es nicht mehr und nicht weniger um: „Gott existiert, er lebt in Brüssel und er ist ein Scheusal“. Der belgische Regisseur Jaco Van Dormael nimmt den Zuschauer schon von Beginn an auf eine imaginäre wie visionäre Entdeckungsreise voller überraschender wie unvergesslicher Kinomomente. Wie üblich bei ihm wird auch hier die Geschichte von einer Außenseiterin, einem 10-jährigen Mädchen, erzählt, das gegen seinen tyrannischen Vater revoltiert. Ein Generationskonflikt galaktischen Ausmaßes, denn eben dieser Vater ist der realexistierende Gott und ein Menschenhasser sondergleichen. Der Film ist ein makabres wie virtuoses philosophisches Gedankenspiel, ein Augenfest für Cineasten und das Publikum zugleich.
Hier dies nur nebenbei: Der diesjährige Douglas-Sirk-Preis ging an Catherine Deneuve, die in diesem Film eine Paraderolle hat. Dies ist auch ein Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Filmkultur verdient gemacht haben. Ohne Zweifel gehört Deneuve zu dieser Kategorie, fragt sich nur, ob es nicht andere Kandidaten gab, die so einen renommierten Preis, außer ihn „verdient“ zu haben, vielleicht mehr gebraucht hätten. Denn eine Catherine Deneuve muss inzwischen überfordert sein mit ihren zahlreichen Trophäen, wohin nur und in welches Regal?
Auch die kanadische Politsatire „My Internship in Canada“ (Sektion Veto, der politische Film, 2015) ist in erster Linie ein Vergnügen von besonderer Güte. Der Film enthält einen überaus originellen Plot und beschreibt das turbulente Leben eines einfachen gewissenhaften Abgeordneten im Ausnahmezustand. Denn die Teilnahme Kanadas an einem Krieg im Nahen Osten hängt nur von einer Stimme, nämlich seiner ab. Und von nun an gerät sein Leben in einen eklatanten Strudel aus Machtspielen, Korruption, Lügen und Betrug, und allem Unheil und allen Absurditäten, die der postmoderne Politikbetrieb zu bieten hat.
Beide Filme sind skurril liebenswert, satirisch und zum Schreien komisch, und gleichzeitig aber zeigen beide, jeder auf seine Art, hinter ihrem beißendem Humor etwas unmissverständlich Elementares: In was für einem Schlamassel wir auf einem Planeten namens Erde leben.
Die Filme der Sektion VETO zeichnen eine politische Geisterfahrt der dunkelsten Vergangenheit: „Every Face has a Name“ (2015), eine schwedische Dokumentation von 2010 über KZ-Überlebende bis zum aktuellen Wahnsinn: Cartel Land, Dokumentarfilm, Mex, USA (2015) über die barbarische Drogenmafia in Mexiko und den Widerstand der Zivilbevölkerung. Diese Sektion bot eine augenöffnende kontinentale Reise, hierher gehört auch der Dokumentarfilm „A Syrian Love Story“(2015), der das allgegenwärtige alltägliche Drama „Flüchtlinge“ zum Thema hat. Und im Spielfilm „One Summer“ (2014) aus China werden wir Zeugen der Suche einer Frau in einem undurchsichtigen bürokratischen Labyrinth nach ihrem inhaftierten Mann.
Und parallel zu diesen kostbaren Filmvorführungen liefen interessante Rahmenveranstaltungen mit verschiedenen anregenden Themenschwerpunkten.
In Zusammenarbeit zwischen Filmfest und Filmförderung Hamburg ist zum dritten Mal der spannende Drehbuchwettbewerb „Butter bei die Stoffe“ organisiert und durchgeführt worden. Schon in den Monaten vor Beginn des Filmfests werden in einem anonymen Verfahren die fünf besten Stoffe von einer Fachjury ausgewählt. Die fünf Autoren bekommen die Gelegenheit, vor diesen Jurymitgliedern und vor interessiertem Publikum ihre Stoffe in 6 Minuten zu pitschen. Nach der Präsentation ziehen sich die Juroren für eine kurze Zeit zur Beratung zurück, um dann den Gewinner bekannt zu geben. Dieser ausgewählte bekommt für die Drehbuchentwicklung 20 000 Euro plus einem Honorar für die dramaturgische Beratung.
„Buch trifft Film“ ist die andere innovative, von Filmfest und Filmförderung Hamburg initiierte jährliche Veranstaltungsreihe, es ist eine ganz besondere Art von Stoffpräsentation und vom Pitschen, in der die Literaturverfilmung im Mittelpunkt steht. Hier schicken namhafte Verlage wie Rowohlt ihre Repräsentanten, um die Produzenten, Drehbuchautoren und Regisseure von der Verfilmbarkeit ihrer für sie geeigneten Romane zu überzeugen.
Und täglich erlebten Fachbesucher, das Publikum und im weitesten Sinne des Wortes Filminteressierte im Festivalzelt neben dem Abaton Kino auf dem Allende-Platz aufregende Gespräche und Diskussionen. Der Schauspielerverband (BFFS) hat hier schon seit Jahren eine ständige Präsenz. Während des Festivals interviewt täglich ein Schauspieler des Verbands einen Regisseur, dessen Film im Festival läuft. Dieses Zelt hat sich inzwischen zu einer pulsierenden Plattform für cineastischen Austausch und Dialog entwickelt. Hier geht es hautnah und heißblütig zur Sache. Man erlebt aufschlussreiche und schonungslose Gesprächsrunden von Filmschaffenden selbst über das kreative wie das geschäftliche Innenleben des Mediums Film, über dessen Grenzen und Möglichkeiten.
Und wenn ein Filmfest unserer Zeit so echt ist, dass es gelegentlich seine Zuschauer bis zur Grenze der körperlichen Zumutbarkeit führt, dann war hier in Hamburg vom 1. bis zum 10. Oktober genau das, und zum Glück der Fall.
In der Sektion „Transatlantik, Kino aus Nordamerika“ lieferte das Programm mit dem „Remember“ (2015) von Atom Egoyan eine geradezu schmerzhafte Kinoerfahrung, dies ein gerechtes Anliegen: ein eindringlicher vertrackter Kopfthriller über die noch verbliebenen KZ-Überlebenden, ein morbides Spiel von Rache, von Erinnerung und Ohnmacht und von Nichts-Vergessen-Können bis zum letzten Atemzug.
Nach der Aufführung kam ich mit einem sehr alten Mann, einem damaligen Zeitzeugen, ins Gespräch. Die Gebrechlichkeit und die Vergesslichkeit der Hauptfigur während seiner Racheodyssee trieb diesen Zuschauer buchstäblich in eine seelische und körperliche Verzweiflung. Aus Scham und Hilflosigkeit wünschte er sich eine „Totalamnesie“.
Und hier eine ganz andere Seite des Festivals: Erfrischend und erfreulich war, dass zwei amerikanische Qualitätsserien in zwei Sondervorführungen gezeigt wurden. „Schluss mit strahlenden Helden“ so der Titel der Initiative, die in Zusammenarbeit von Filmfest und Sky Deutschland zustande kam. Für die Zuschauer die seltene Gelegenheit, Pilotfolgen von „Public Morals“ und „Show me a Hero“ auf großer Leinwand zu genießen.
„Show me a Hero“ ist die letzte Arbeit, eine Miniserie vom einmaligen David Simon, dem Erfinder der formal wie inhaltlich revolutionären Serie „The Wire“. Auch hier durchleuchtet Simon mit einem ihm eigenen realistischen Gespür die dunkelsten Winkel der amerikanischen Gesellschaft, insbesondere den Rassismus gegenüber Schwarzen, Themen von brandpolitischer Aktualität und globaler Reichweite bis in unsere eigene Wirklichkeit.
Und wenn nicht der aufwühlendste Beitrag, mit Sicherheit aber einer der stärksten Produktionen war der spanische Film „A perfect Day“ (2015) von Fernando Leon De Aranoa. Die Handlung beschreibt die Arbeit der Gruppe einer internationalen Hilfsorganisation irgendwo im Balkan im Verlauf eines Tages. Die außerordentliche Stärke dieses Films ist nicht nur die zurückhaltende Schauspielerkunst (allen voran die Oscarpreisträger Benicio del Toro und Tim Robbins), vielmehr die kaum spürbare Steigerung eines unwiderstehlichen Sogs, der die Zuschauer in eine körperliche Starre und verstörende Atemlosigkeit versetzte. Die traurigen Figuren sprechen sarkastisch und humorvoll über ihre alltägliche Situation und Bedürfnisse, beiläufig und im Hintergrund demaskiert der Film die verheerenden Folgen des Krieges für die Menschen, auf die Landschaften und die nichtendende Spirale der Gewalt, des Hasses und der absoluten Hilflosigkeit.
Man ist hier mindestens eine Weile nah dran am globalen Elend der menschlichen Existenz, und wird unwiderruflich zum Zeugen unserer Grausamkeit. Es gehört zu den seltenen Kinoerfahrungen bei dem der Zuschauer erst machtlos in den Sessel gedrückt wird, und am Ende mit bleichem Gesicht, beschämt und lautlos den Saal verlässt.
Filme von diesem Format unterstreichen und beweisen einerseits die treffende Aussage des Programmleiters im Editorial „…Weil wir es wissen, dass alles politisch ist…“. Andererseits hat auch die gesamte vielfältige Auswahl der Filme seinen Anspruch „den dreifachen Spagat zwischen Politik, (Film-)Kunst und Unterhaltung“ eindrucksvoll eingelöst.
Der Erfolg des Filmfests mag verschiedene Gründe haben. Es könnte an dessen langer Entstehungsgeschichte liegen, die schon seit den 50er Jahren verschiedene und nachhaltige Phasen durchlebte, immer verbunden mit kontroversen, kreativen und progressiven Debatten.
Gewiss spielt auch die Art der Festivalstruktur eine erleichternde Rolle für die Organisatoren: Zum Glück hat man hier auf die übertriebenen glamourösen Showeffekte verzichtet, auf gigantisch überdrehte Roter-Teppich-Rituale und die Suche und die Benennung namhafter und konkurrierender Jurymitglieder. Dagegen werden die Preise in der jeweiligen Kategorie von Fachleuten, Produzenten und Filmkritikern in überschaubarer sachlicher Atmosphäre bestimmt, begründet und vergeben.
So können sich die Verantwortlichen hauptsächlich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren und sich als Anwälte und scharfsinnige Agenten der weltweiten kreativen und kritischen Filmkunst zuwenden.
Und nicht zu übersehen die maßgebliche Rolle des Festivalleiters Albert Wiederspiel, vielleicht auch begründet auf seiner ungewöhnlichen Biografie. Bei der Preisvergabe der Hamburger Produzenten für europäische Kino-Koproduktionen an den rumänischen Film „One Floor Below“ (2015) sagte er beiläufig etwas Wichtiges: Sofort nachdem er den Film in Cannes gesehen habe, habe er dem Regisseur gesagt: Er wolle unbedingt diesen Film für das Hamburger Filmfest haben, sonst passiere was Schönes“. Solch eine spontan gelungene Entscheidung und solch ein Durchsetzungsvermögen beweist seine emotionale Stärke und seinen intelligentes Gespür bei der Auswahl der Filme.
Wie dem auch mit den Gründen sein mag, vielleicht auch eine Mischung aus allem und anderen, das Ergebnis spricht jedenfalls eine eindeutige klare Sprache: Der bunte Weltspiegel, den dieses Filmfest vor Augen führt, besitzt eine evidente Breiten- und Tiefenschärfe, es ist ein signifikantes Markenzeichen und ein Segen für Hamburg.
Die Filmindustrie ist schon seit langem und wird immer mehr in ihrer Hauptfunktion zu reiner Unterhaltung und Betäubung. Der Film war aber in seinem Ursprung ein unschuldiges und aufklärendes Medium. Es kann auch, wie dieses Festival gezeigt hat, zwar jenseits der inkompetenten Medienindustrie ein wahres unverzichtbares Feld der Reflexion werden. Eigentlich ist es eine Paradoxie, zugleich eine Herausforderung, dass wir gerade in Zeiten einer ultrarasanten Nachrichten- und Bilderüberflutung mehr denn je authentische Kinobilder bitter nötig haben, die zeigen, sezieren, sensibilisieren und mahnen, was und wie tatsächlich um uns, in unserem globalen Dorf geschieht.
In diesem Sinne möchte man dem Leiter des Hamburger Filmfestivals und seinem engagierten kompetenten Team (auffällig auch der reibungslose Verlauf und die professionelle Gästebetreuung) weiter Standhaftigkeit und einen klaren Blick für das nächste Jahr wünschen.
19.10.2015
Bilder mit freundlicher Genehmigung vom Filmfest Hamburg
Schreibe einen Kommentar